Hohe Preise speziell im Bereich Energie stellen für Deutschland zurzeit eine Herausforderung dar. Bild: Adobe Stock
Deutschland steht vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen. Michael Kern, Geschäftsführer der AHK Norwegen, beantwortet die vier wichtigsten Fragen. Er erklärt, was gerade geschieht Deutschland, wie es jetzt weitergehen könnte und warum Norwegen auch längerfristig eine wichtige Rolle spielt.
Wie ist die aktuelle Situation in Deutschland?
Michael Kern: Derzeit erleben wir eine Kombination aus wirtschaftlichen Herausforderungen, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gegeben hat: Eine ausgewachsene Energiekrise trifft auf eine Wirtschaft, die sich gerade von einer weltweiten Pandemie erholt. Globale Lieferketten sind nach wie vor unterbrochen oder stocken, etwa durch die Null-Covid-Strategie Chinas, die zu plötzlichen Schließungen wichtiger Exporthäfen wie Shanghai führen. Gleichzeitig sind die Energiepreise massiv angestiegen, was sich in einer starken Inflation in Europa und den USA niederschlägt. Für eine exportorientierte Nation wie Deutschland sind das schwierige Voraussetzungen. Die Folge können Produktionsstopps sein sowie Herausforderungen and die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts. Das deutsche Geschäftsmodell, das größtenteils auf günstiger Energie basiert, ist ins Wanken geraten. Für dieses Jahr sagen Experten dem deutschen Bruttoinlandprodukt (BIP) noch ein kleines Wachstum von 1,4 Prozent voraus bei einer Inflationsrate von 8,5 Prozent. 2023 rechnen sie mit einem BIP-Minus von 0,4 Prozent – bei einer Inflation von gut 8,8 Prozent gegenüber 2022. Deutsche Unternehmen stellen sich für die kommenden zwölf Monate auf einen weiteren Wirtschaftseinbruch ein, wie eine aktuelle Umfrage des DIHK mit 24 000 Teilnehmenden ergeben hat

Wie konnte es so weit kommen?
Vor rund zehn Jahren hat die deutsche Politik, als Konsequenz der Fukushima-Atomkatastrophe in Japan, den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Gas sollte für die kommenden Jahrzehnte als Übergangs-Energiequelle dienen, bis die geplante Umstellung des Landes auf erneuerbare Energien, insbesondere Solar und Wind, vollzogen ist. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat diesen Plan jetzt zunichte gemacht. Russisches Gas steht auf einmal nicht mehr zur Verfügung und es ist unklar, ob dies je wieder der Fall sein wird. Zwar hat Deutschland den Ausbau erneuerbarer Energien, insbesondere Solar, in den vergangenen Jahren stets vorangetrieben. Allerdings reicht der jetzige Stand bei weitem nicht, um den Wegfall des Gases aufzufangen. Die Folgen sind eine Energieknappheit und entsprechende Preise. Die Wirtschaft, die bereits zwei entbehrungsreiche Pandemie-Jahre überstehen musste, verträgt das nicht gut. Hinzu kommen besagte Unterbrechungen von Lieferketten, die Produkte und Rohstoffe zeitweise knapp und daher teurer machen. Diese erhöhten Preise setzen eine Teuerungsspirale in Gang, die sich über einen Konsumrückgang wieder auf die Unternehmen auswirkt.
Wie geht es jetzt weiter?
Derzeit sind die Gasspeicher Deutschlands trotz des Wegfalls Russlands zu 99 Prozent gefüllt. Das ist zusätzlichen Lieferungen aus anderen Ländern, insbesondere aus Norwegen, zu verdanken. Mehrere Flüssiggasterminals an deutschen Küsten sind derzeit entweder geplant oder im Bau, um Gaslieferungen per Schiff künftig zu erleichtern. Da die Gasreserven auch beim jetzigen, maximalem Füllstand nur für zwei bis drei Wintermonate reichen, werden Anreize zum Energiesparen von bis zu 20 Prozent für Industrie und Haushalte geschaffen. Gleichzeitig will die Politik mit Maßnahmen wie einer Gas- und Strompreisbremse die Energiekosten künstlich drücken. Zudem wird der sogenannte Fuel-Switch erleichtert – eine Umstellung der Bereiche, die bis anhin Gas verwendet haben, auf Öl. Darüber hinaus bleiben Deutschlands drei verbleibende AKW nun bis Ende April am Netz. Und vereinzelt werden jetzt sogar stillgelegte Kohlekraftwerke reaktiviert. Diese bis vor kurzem unvorstellbaren Maßnahmen zeigen die Not der Situation. Man ist sich in Deutschland aber einig, dass diese nur vorübergehend und beim gleichzeitigen, schnellstmöglichen und langfristigen Ausbau erneuerbarer Energiequellen geschehen dürfen.
Mittel- bis Längerfristig steht Deutschland vor großen Herausforderungen. Die kommenden ein, zwei Jahre werden vermutlich nicht einfach. Doch das Land hat Krisen in der Vergangenheit immer gemeistert und sowohl Innovativität als auch Anpassungsfähigkeit bewiesen.
Michaek Kern, Geschäftsführer AHK Norwegen
Die deutschen Unternehmen sind laut der DIHK-Umfrage trotz schwieriger Aussichten willens, in Innovationen und Projekte zu investieren: Zwei Drittel geben an, ihre Investitionen auf gleichem Niveau zu halten oder gar zu erhöhen. Jetzt gilt: diversifizieren und dekarbonisieren. Das heißt, das Land muss den Ausbau erneuerbarer Energien schnellstmöglich vorantreiben und breit auf verschiedene Energiequellen setzen. Das entspricht den gesetzten Klimazielen und macht weniger anfällig auf Krisen. Dafür ist die Zusammenarbeit mit Partnern in Europa unabdingbar. Die aktuelle Situation kann kein Land allein bewältigen, das geht nur im Verbund. Der Kontinent muss noch näher zusammenrücken.
Wie wirkt sich das alles auf die Unternehmen in Deutschland und Norwegen aus?
Obwohl sich Norwegen in einer anderen Situation befindet als Deutschland, sind auch dort die Strompreise stark angestiegen, zumindest im Süden des Landes. Das bekommen Unternehmen, die dort ansässig sind, zu spüren. Norwegische Unternehmen in Deutschland wiederum sitzen im gleichen Boot wie die deutschen und haben mit denselben Herausforderungen zu kämpfen. Die Energie- und Produktionskosten werden für Unternehmen in den kommenden Monaten hoch bleiben. Gleichzeitig werden die Krise und die Abkehr von Gas aus Preisgründen dazu führen, dass erneuerbare Energiequellen attraktiver werden. Somit wird die Nachfrage nach Unternehmen, die in diesem Bereich tätig sind, steigen. Die deutsche Industrie wird auch längerfristig auf Energieimporte und damit auf Norwegen angewiesen sein. Umgekehrt braucht Norwegen starke wirtschaftliche Partner wie Deutschland, um seine geplante Grüne Industriewende umsetzen zu können. Die 2022 vorgestellten CCS- und Wasserstoffprojekte der VNG AG oder Wintershall Dea mit Equinor illustrieren dieses Verhältnis gut. Andere Beispiele sind etwa der Offshore-Windpark Arkona von RWE und Equinor oder das norwegische CCS-Projekt von Heidelberg Cement. Deutschland spielt für Norwegen eine wichtige Rolle und umgekehrt – jetzt und in Zukunft.