Entscheidungsträger wie Krankenhäuser, Pflege- und Rehaeinrichtungen (über 3 000 im Jahr 2017) sowie lokale, regionale und bundesweite Regelungen erschweren ausländischen Akteuren den Einstieg in den deutschen Gesundheitsmarkt. Als erstes Land der Welt hat Deutschland jetzt digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) in einem landesweiten Verzeichnis auf Rezept zugänglich gemacht. Hierdurch wird es auch für norwegische Anbieter von digitalen Gesundheitsanwendungen leichter, sich auf dem deutschen Markt zu etablieren.
„Die größte Hürde für Unternehmen, die sich in Deutschland etablieren möchten, besteht darin, herauszufinden, an wen sie sich mit ihren Lösungen wenden sollen. Eine weitere Herausforderung ist, dass man eine ausreichende Marktstärke mitbringen muss. Denn im deutschen Gesundheitswesen gibt es unzählige Entscheidungsträger. Sie treffen ihre Entscheidungen alle einzeln, beispielsweise rund
2 000 Krankenhäusern mit eigenem Einkaufsausschuss“, erklärt Ole Christian Ruge, Geschäftsführer von Denova Impuls, der norwegische Medizintechnikunternehmen bei der Etablierung auf dem deutschen Markt unterstützt.
Trine Radmann, Head of International Affairs beim Cluster Norway Health Tech, berichtet von ähnlichen Herausforderungen auf dem deutschen Gesundheitsmarkt. „Ein Unternehmen, das einen Fuß ins System bekommen hat, mit dem Prüfungs- und Zulassungsprozess begonnen oder ein Produkt direkt an eine Gesundheitseinrichtung verkauft hat, kann sein Geschäft nicht automatisch auf den Rest von Deutschland ausweiten. Unterschiedliche Regionen erfordern verschiedene Herangehensweisen und haben ihre eigenen Anlaufstellen.“
„Das Marktvolumen im Bereich der Digital Health in Deutschland wird für das Jahr 2025 mit 38 Milliarden Euro veranschlagt. Hieraus erwächst ein enormes Potenzial für innovative und digitale Lösungen.“
Trine Radmann, Head of International Affairs beim Cluster Norway Health Tech
In den letzten Jahren war Deutschland einer der Hauptmärkte des Clusters. Gemeinsam mit deutschen Partnern arbeitet es mit einer Reihe von Webinaren aktiv daran, Informationen zu verbreiten. Der Cluster entwickelt auch ein Skalierungsprogramm für norwegische „Scaleups“, die sich auf dem deutschen Markt etablieren möchten.
„Das Marktvolumen im Bereich der Digital Health in Deutschland wird für das Jahr 2025 mit 38 Milliarden Euro veranschlagt. Hieraus erwächst ein enormes Potenzial für innovative und digitale Lösungen. Die norwegische Gesundheitsbranche möchte dazu beitragen, den Bedarf und die Herausforderungen, vor denen der deutsche Gesundheitsmarkt steht, zu decken und greift die Möglichkeiten, die DiGA eröffnen, sehr gerne auf.“
73 Millionen Versicherte als potenzielle Kunden
„Aus juristischer Perspektive war es bisher aufwendig und wenig lukrativ, sich auf dem deutschen E-Health-Markt zu etablieren. Das ändert sich jetzt. Zu diesem Schluss kommt der Software-Anbieter Pryv in seiner Analyse der Möglichkeiten, die sich mit Deutschlands neuem, 2019 verabschiedeten Digital-Versorgung-Gesetz (DVG) eröffnen.
Das DVG ist die gesetzliche Grundlage für das DiGA-Verzeichnis. Es ermöglicht die Verordnung von digitalen Gesundheitsanwendungen auf Rezept und die Kostenübernahme durch die Krankenversicherung.
„Wenn ein Unternehmen, das eine DiGA anbietet, den Fast-Track-Prozess erfolgreich durchläuft und im DiGA-Verzeichnis gelistet werden kann, können alle 105 gesetzlichen Krankenkassen die Anwendung erstatten. Somit hätten 73 Millionen Versicherte Zugang zu dieser Anwendung“, erklärt Julia Pietsch, Senior Manager Chemicals & Healthcare bei Germany Trade and Invest (GTAI).
Unternehmen, deren DiGA zugelassen werden, werden in das Verschreibungs- und Erstattungssystem der Krankenkassen aufgenommen. Nach den Zahlen der GTAI entfielen im Jahr 2018 hierauf 221 Milliarden Euro oder 57 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben in Deutschland. Die Zulassung einer Anwendung erhalten die Anbieter im Rahmen eines Fast-Track-Prozesses, bei dem der Antrag innerhalb von drei Monaten bearbeitet wird. Dieses Verfahren gilt als wesentlich zügiger als der herkömmliche Markteinstieg über das Verschreibungs- und Erstattungssystem der Krankenkassen oder den privatwirtschaftlichen Sektor.
„Das Fast-Track-Verfahren erleichtert die Aufnahme in das Erstattungssystem verglichen mit dem herkömmlichen Weg erheblich“, bestätigt Ruge, gibt jedoch gleichzeitig zu bedenken: „Hierbei muss man aber eines ganz klar sehen: Es ist eine Sache, die Zulassung für eine digitale Lösung im DiGA-Verzeichnis unter vielen anderen zu erreichen. Niedergelassene Ärzte und Krankenhausärzte davon zu überzeugen, diese DiGA anstatt aller anderen auf diesem Gebiet zu nutzen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Man braucht also einen langen Atem.“
„Für Gesundheits-Start-ups ist die Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis eine der wichtigsten zukünftigen Einnahmequellen“, stellt der Journalist Jürgen Stüber in der Onlinezeitschrift Gründerszene fest und verweist darauf, dass hierbei völlig andere Preise als im B2C-Markt über App-Stores oder über Verträge mit einzelnen Versicherungen verhandelt werden.
Potenzielles Unternehmenswachstum
Um in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen zu werden, muss eine Lösung strenge Anforderungen unter anderem an die Datensicherheit, Qualität, Funktionalität und den Datenschutz erfüllen. Die Anbieter müssen auch den therapeutischen Nutzen ihrer Anwendung nachweisen können. Viele Unternehmen werden diese Kriterien nicht von Anfang an erfüllen können. Deswegen besteht die Möglichkeit der vorläufigen Aufnahme einer App ins DiGA-Verzeichnis. Dem Anbieter bleiben dann zwölf Monate Zeit, um den therapeutischen Nutzen durch klinische Studien nachzuweisen. Unter der Voraussetzung, dass die Finanzierung gesichert ist, bietet dieses Verfahren laut Pryv Start-ups gute Möglichkeiten, neue Geschäftsmodelle einzuführen. „Ein erfolgreiches Fast-Track-Verfahren ermöglicht E-Health-Startups, schnell zu wachsen und sich zu entwickeln. Die vorläufige Aufnahme für einen Probezeitraum von zwölf Monaten verschafft den Anbietern Zeit, den Nutzen ihres Produkts nachzuweisen, während es bereits auf dem Markt ist.“
Für ausländische Akteure, die mit den deutschen Regelungen und Vorschriften nicht vertraut sind, kann das Antragsverfahren jedoch sehr aufwendig sein. „Wir unterstützen norwegische Unternehmen sehr gerne bei Fragen zum Antragsverfahren. Auf unserer Homepage haben wir umfassende Informationen und Links zu wichtigen Stellen zusammengestellt. Darüber hinaus halten wir regelmäßige Webinare zu diesem Thema. Unternehmen mit Interesse an E-Health in Deutschland können sich auch gern direkt an mich wenden“, versichert Pietsch von GTAI abschließend.
„Ein erfolgreiches Fast-Track-Verfahren ermöglicht E-Health-Startups, schnell zu wachsen und sich zu entwickeln.“
Ole Christian Ruge, Geschäftsführer von Denova Impuls
Pietsch zufolge besteht die erste Herausforderung für viele Unternehmen oft darin, zu verstehen, ob eine digitale Anwendung unter die Definition DiGA fällt oder nicht. Die Zuständigkeit für den Fast-Track-Prozess liegt beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Nach Angaben der Behörde muss eine digitale Gesundheitsanwendung als Medizinprodukt der Risikoklasse I oder IIa nach MDR definiert sein. Die Hauptfunktion muss auf digitalen Technologien basieren. Darüber hinaus muss die App die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Verletzungen oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Krankheiten und Behinderungen unterstützen. Die DiGA dürfen auch nur zu therapeutischen Zwecken genutzt werden, entweder nur vom Patienten oder vom Patienten und Leistungserbringer.
Außerdem kann es schwierig sein zu verstehen, ob sämtliche Anforderungen und Voraussetzungen für den Fast-Track-Prozess erfüllt sind. Pietsch empfiehlt norwegischen Antragstellern, die Informationen, die es auf der Website des BfArM in englischer Sprache gibt, zu nutzen oder direkt mit dem Institut Kontakt aufzunehmen. „Das BfArM stellt Antragstellern Informationen über die Voraussetzungen und Anforderungen für die Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis zur Verfügung. Auf diese Weise können die Unternehmen von Anfang an Unterstützung bei der Erstellung aussagekräftiger Unterlagen und Daten für das Antragsverfahren erhalten. Wir empfehlen frühzeitig mit dem BfArM in Kontakt zu treten – bevor man seinen Antrag stellt – damit man sicher geht, dass alle Voraussetzungen für den Fast-Track-Prozess erfüllt werden können.“
Optimierte Zusammenarbeit durch das Krankenhauszukunftsgesetz
Am 22. September letzten Jahres hat der Bundestag das Krankenhauszukunftsgesetz verabschiedet, das unter anderem die Digitalisierung deutscher Krankenhäuser beschleunigen soll. „Das Gesetz fördert eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern beziehungsweise Krankenhausträgern und den Bundesländern im Gesundheitsbereich. Das ist ein wichtiger Schritt für eine überregionale und behördenübergreifende Zusammenarbeit. Dies wird es norwegischen Gesundheitsunternehmen und anderen, die in Deutschland einen interessanten Markt sehen, vereinfachen, in den Markt zu kommen. Das Gesetz ebnet auch den Weg für die flächendeckende Einführung des 5G-Netzes in Deutschland. Hierdurch wird es einfacher, landesweite digitale Gesundheitslösungen anzubieten“, erklärt Radmann von Norway Health Tech abschließend.
Auch Ole Christian Ruge von Denova Impuls ist der Meinung, dass das Gesetz Technologieunternehmen, die Lösungen für die telemedizinische Versorgung anbieten, enorme Möglichkeiten eröffnet. „Norwegen hat im Bereich Digitalisierung einen kleinen Vorsprung vor Deutschland. Es ist aber vermutlich nur eine Zeitfrage, bis Deutschland Norwegen auf diesem Gebiet eingeholt hat. Denn wenn das deutsche System einmal in Gang ist, entwickelt es eine enorme Kraft.“