Großes Entwicklungspotential bei der Binnenschifffahrt

In unserer Zukunftsvision hat sich der Mensch eine voll automatisierte Welt aufgebaut. Er braucht nur noch in selbstfahrende Fahrzeuge einzusteigen, Waren werden ihm ebenso automatisch, am besten direkt ins Haus, geliefert. In dieser Vision spielt auch die Binnenschifffahrt eine Rolle. Eigenständig fahrende, vernetzte Flotten von Binnenschiffen organisieren und optimieren selbstständig Fahrten. Waren werden an den Produktionsstätten direkt und vollautomatisch verladen und effizient wie nachhaltig zum nächsten Transportmittel gebracht.

Automatisiert, nicht autonom

Im Moment ist ein derartiges Szenario für die Binnenschifffahrt noch sehr fern. Im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern müssen hier zur Realisierung derartiger Visionen besonders große Herausforderungen bewältigt werden. So erscheint das autonome Fahren beim Schienenverkehr beispielsweise am leichtesten realisierbar, da Schienenfahrzeuge nur die Möglichkeit haben, die Geschwindigkeit und die Fahrtrichtung zu ändern. Auch das Autobahnszenario im Straßenverkehr stellt durch eine bauliche Trennung der Fahrstreifen und die Befahrbarkeit in nur eine Richtung ein vergleichsweise einfaches Umfeld dar. Zudem arbeiten fast alle Automobilkonzerne und deren Zulieferer sowie Forschungsinstitutionen der Automobilwirtschaft mit Hochdruck an der Entwicklung autonomer beziehungsweise hochautomatisierter Fahrzeuge.

In der Binnenschifffahrt sieht das anders aus. Binnenschiffe sind in den vergangenen Jahren länger, breiter und schwerer geworden und in eine sehr komplexe Transportlogistik eingebunden. Die Navigationssensorik der Schiffe hat sich in der letzten Dekade dagegen nur wenig verändert. Entwicklungen aus der Seeschifffahrt lassen sich aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse nicht ohne weiteres auf die Binnenschifffahrt übertragen. So sind Binnengewässer sehr viel enger, die Begegnungsabstände zu anderen Schiffen sind hier deutlich geringer. Zudem herrschen auf Fließgewässern wie dem Rhein oder der Elbe oft schnell wechselnde Strömungsverhältnisse, auf die reagiert werden muss. Auch die Verkehrslage, die Wetterbedingungen und der Wasserstand sind häufig innerhalb kürzester Strecke unterschiedlich.

LAESSI als Voraussetzung für die Zukunft

Daher steht bei der Entwicklung einer automatisierten Binnenschifffahrt derzeit das einzeln operierende Schiff und dessen Fahrt von einem gegebenen Startpunkt zu einem gegebenen Zielpunkt im Fokus.

Im vergangenen Jahr präsentierte das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gemeinsam mit Partnern aus der Industrie und dem Bund ein System mit neuen Assistenzfunktionen für Binnenschiffe. Hinter dem „LAESSI“ genannten Projekt (Leit- und Assistenzsysteme zur Erhöhung der Sicherheit der Schifffahrt auf Inlandwasserstraßen) verbergen sich vier Systeme: eine Brückenanfahrwarnung, ein Assistent zum Anlegen, einer zum spurgenauen Fahren und eine sogenannte Conning-Anzeige, die alle Bewegungen des Schiffes übersichtlich dargestellt.

Für die LAESSI-Module haben die Experten Algorithmen entwickelt, die dem Schiff zuverlässig Positions-, Navigations-, und Zeitinformationen bereitstellen. Hilfreich war dabei das bereits vorhandene AIS-System. AIS ist heute Standardausrüstung auf allen Binnenschiffen. Darüber hinaus sind bereits viele Wasserstraßen mit AIS-Landstationen ausgestattet, die Meldungen von Schiffen empfangen und Signale an diese senden können.

LAESSI ist nicht als Ersatz für die Schiffsführer entwickelt, es stellt viel-
mehr ein Assistenzsystem dar, das die Sicherheit auf Binnenwasserstraßen erhöhen soll. Die Systeme entlasten die Schiffsführer und sind somit eine Voraussetzung für ein künftiges teilautonomes Fahren.

Vorhandene Technologien und Sensoren unterstützen den Steuermann bereits bei seiner Arbeit und erleichtern es, mögliche Gefahrensituationen rechtzeitig zu erkennen und einzuordnen. Mit zunehmender Automatisierung, so die Hoffnung der Projektbeteiligten, könnten dann auch die Besatzungskosten reduziert werden. Soweit ist es allerdings noch lange nicht.

Testfeld als nächsten Schritt

Mit dem Aufbau eines digitalen Testfeldes für autonome Binnenschiffe möchte das DLR gemeinsam mit Partnern aus Industrie und Bund den nächsten Schritt hin zur autonomen Binnenschifffahrt machen. An der Oder-Spree-Wasserstraße in Brandenburg zwischen den Häfen im Königs Wusterhausen und Eisenhüttenstatt sollen ab 2020 neue Technologien entwickelt werden.

„Hier haben wir die Möglichkeit, einzelne Basistechnologien zu testen, die das Binnenschiff Schritt für Schritt weiter automatisieren“, so Dr. Ralf Ziebold in der Pressemeldung des DLR-Institut für Kommunikation und Navigation Neustrelitz.

Darüber hinaus wollen die Wissenschaftler erforschen, an welchen Stellen Schiffe in etablierten Gütertransportketten eingesetzt werden können. Bisher läuft der Großteil der Transporte über Lkw. Wenn ein Teil des Gütertransports auf das Wasser verlagert wird, könnte dies den Straßenverkehr deutlich entlasten.

„Der Bundesverkehrswegeplan sieht vor, dass bis zum Jahr 2030 der Güterverkehr mit Binnenschiffen um 23 Prozent wachsen soll. Dazu müssen wir diesen Verkehrsträger wettbewerbsfähiger machen“, so Ziebold.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden 2017 lediglich fünf Prozent der Güter mit dem Binnenschiff befördert. Aktuell wird das Binnenschiff häufig für den Transport von Massengütern wie Kohle oder Erz eingesetzt. „Da der Transport von Massengütern – beispielsweise durch den Kohleausstieg – zurückgeht und der von Containerladungen sowie Schwergut beständig zunimmt, muss auch das Binnenschiff flexibler werden“, erläutert Ziebold. Die Wissenschaftler möchten mit dem Testfeld auch untersuchen, welche weiteren Anwendungen möglich sind, beispielsweise kleinere Containereinheiten, die eigenständig auf- und abgeladen werden können.

Felix Reimann