„Veränderung ist ostdeutsche Kontinuität“

Gastkommentar von Stefan Krabbes

Am 3. Oktober 2020 feierte Deutschland das dreißigste Jahr seiner friedlichen Wiedervereinigung. Da ich erst 1987 in Dessau (Anhalt) geboren wurde, fehlt mir die DDR-Erfahrung. Allerdings habe ich die Transformationszeit miterlebt. Meine Generation nenne ich daher die „hybride Generation“. Durch unsere Eltern wurden wir ostdeutsch sozialisiert, aber durch das westdeutsche Bildungssystem geformt. Wir sind mit beiden Systemen vertraut und in der Lage zu übersetzen. Mit dieser Perspektive lohnen darum ein Rück- und Ausblick auf 30 Jahre Wiedervereinigung.

Der Fokus soll dabei auf Ostdeutschland liegen, da hier die größten Veränderungen wahrnehmbar waren. Vorab lässt sich, einem Zitat Heraklits entlehnt, sagen: Die einzige Kontinuität der Ostdeutschen war in den letzten 30 Jahren die Veränderung. Beginnend mit der Wiedervereinigung, der folgenden Deindustrialisierung des Ostens und der damit einhergehenden Massenarbeitslosigkeit, der Hartz-Sozialstaatsreformen, der Krise der Solarindustrie, der Finanz- und Staatsschuldenkrise, dem Sommer der Zuwanderung, die heutige Corona-Krise sowie die allumfassende Klimakrise. All dies passierte in den letzten 30 Jahren.

Dabei trafen gerade die Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit sowie die Sozialstaatsreform den Osten besonders hart. Keines der bekannten und in der DDR erlernten Systeme blieb bestehen, auch das neu erlernte Sozialnetz der Bundesrepublik veränderte sich drastisch mit den Hartz-Reformen.

Das Kohlsche Versprechen „blühender Landschaften“ wurde durch die tatsächlichen Umstände zunächst konterkariert. Wer verstehen will, was eine besondere ostdeutsche Lebensleistung ist, muss verstehen, dass ehemalige DDR-Bürger*innen lernten, wie das Leben im Sozialismus und im SED-Staat funktionierte. All dieses Wissen trug aber nicht zum späteren Bestehen in der Bundesrepublik bei, weswegen sich Ostdeutsche neben dem Hausbau, dem Kindererziehen, der Arbeit, der Arbeitsplatzsuche oder den Umschulungen noch autodidaktisch in die soziale Marktwirtschaft und die bundesrepublikanische Demokratie einarbeiten mussten.

Ein großer Fehler war die Hoffnung, dass mit der Marktintegration der, dem Westen nachempfundene, Demokratisierungseffekt einsetzt. Dabei ist es mitnichten so, dass es im Osten keine Demokratisierungsprozesse gab. Die DDR-Montagsdemonstrationen und die folgenden Runden Tische waren starker Ausdruck des Demokratiewunsches. Doch diese selbst erkämpften Freiheiten wurden mit der Übernahme des westdeutschen Demokratiemodells abrupt beendet.

Stefan Krabbes (hier im Gespräch mit Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow) ist ein deutscher Blogger. Er rief den Hashtag #DerAndereOsten ins Leben, um ein differenziertes Bild Ostdeutschlands zu zeichnen, und der gesamtdeutsche- und europäische Perspektiven aufzeigen soll. Zudem beschäftigt er sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung, die er als der Industrialisierung folgende Epoche sieht.

Twitter: @stefankrabbes

Für zukünftige Wiedervereinigungen von Staaten – wie etwa der zu erhoffenden von Nord-Irland und Irland oder von Nord- und Südkorea, wird perspektivisch darauf zu achten sein, dass man es schafft, eine Wiedervereinigung auf Augenhöhe zu gestalten, die sich auch über die Neuformulierung einer gemeinsamen Verfassung bemerkbar macht.

Dass die Zukunft ruhiger wird als die Vergangenheit, ist ein Irrglaube. Mit der Digitalisierung, der Globalisierung und der Bekämpfung des Klimawandels stehen wir vor weiteren Herausforderungen, deren Gestaltung zusammen angegangen werden muss.

Die Digitalisierung wird zur weiteren Machtkonzentration des Marktes und dem Wegfallen von Intermediären beitragen. Der Journalist George Packer und der Soziologe Didier Eribon beleuchten in ihren Texten die wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen einer ungezügelten Globalisierung. Da Ostdeutschland Krisen erprobt ist, erwächst hieraus eine neue Chance: Eine relokalisierte Wirtschaft, die auf klein- und mittelständische Unternehmen setzt und weniger anfällig für weltweite Krisen wird, die regionale Wertschöpfung erhöht und Lieferketten verkürzt.

Gleichzeitig müssen lokale Hidden Champions der Digitalisierung identifiziert und unterstützt werden. Dies muss zum Beispiel durch die Ansiedlung von Forschungszentren und universitäre Ausgründungen in Ostdeutschland lanciert werden. In einem größeren Kontext stellt sich die entscheidende Frage der Dezentralität der Datenspeicherung zur digitalen Relokalisierung. Mein Wunsch: Ostdeutschland als digitale Ideengarage Deutschlands.

Zeitgleich stellt die zu erwartende Freisetzung von Arbeitskräften durch Digitalisierung und Kohleausstieg eine erneuerte soziale Frage an den Sozialstaat, deren Antwort um die Lebensarbeitszeitgestaltung nicht umhinkommen wird.