Keine deutsche Energiewende ohne norwegisches Erdgas?

In Deutschland setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass Gas bei der angestrebten Energiewende kurz- und mittelfristig eine größere Rolle spielen wird. Aber auch langfristig wird Gas eine wichtige Energiequelle sein – im Hinblick auf die Reduktion von Treibhausgasemissionen und bei der Energieversorgungssicherheit.

Die Debatte über norwegisches Erdgasexporte und die Rolle von Gas bei der europäischen Energiewende spitzt sich zu. Es geht um Klimarisiken und es geht darum, inwieweit Kohle in Europa tatsächlich durch Gas ersetzt werden kann und wie sich die Nachfrage der EU-Länder nach norwegischen Gas nach 2030 entwickelt. Gleichzeitig wird in Deutschland zunehmend erkannt, dass der bevorstehende Kohleausstieg auf kurz- und mittelfristige Sicht nicht ohne Gas durchzuführen ist.

Dies hat Bundeskanzlerin Angela Merkel beim jährlichen Weltwirtschaftsforum im Januar mit Nachdruck verdeutlicht, als sie bekannt gab: „Wenn wir aus der Kohle aussteigen, wenn wir aus der Kernenergie aussteigen, dann müssen wir den Menschen ehrlich sagen, werden wir mehr Erdgas brauchen.“

Etwa 25 Prozent des Gasbedarfs der EU werden durch Importe aus Norwegen gedeckt. Ein großer Teil des exportierten Gases landet in Deutschland, dem größten Gasmarkt Europas. Die Hälfte der deutschen Haushalte heizt mit Gas, und es ist auch eine wichtige Energiequelle für die deutsche Industrie. Gas wird jedoch nur in begrenztem Umfang für die Stromerzeugung verwendet – 2018 entfielen rund acht Prozent der gesamten Stromproduktion des Landes auf Gas.

Mit dem bevorstehenden Kohleausstieg dürfte sich dies in den kommenden Jahren ändern. 2018 machte Kohle noch 37 Prozent der Stromproduktion aus. Wenn die Empfehlungen der Kohlekommission befolgt werden, wird bis 2022 etwa ein Drittel dieser Kapazität verschwinden, ein weiteres Drittel bis 2030 und das verbleibende Drittel bis 2038.

Prognosen geben Merkel Recht

Der rekordhohe Ausbau erneuerbarer Energien, den wir in den letzten Jahren gesehen haben, wird weder ausreichen, Kohle zu ersetzen, noch zur Versorgungsicherheit und zu einem flexiblen Energiesystem beitragen. Daher kann der verstärkte Einsatz von Gas zur Stromerzeugung eine flexible Lösung sein, die zu geringeren Emissionen führt und eine vorhersagbare und sichere Stromversorgung ermöglicht.

Um die stillgelegten Kohlekraftwerke zu ersetzen, wird der deutsche Gasbedarf nach Angaben des deutschen Industrieverbands „Zukunft Erdgas“ bis 2022 voraussichtlich um acht Prozent steigen. Unterschiedliche Organisationen wie der Branchenverband BDI, die Energieagentur DENA sowie die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) schätzen, dass sich die Gaskraftkapazität bis 2030 verdoppeln muss, wenn der Kohleausstieg ein Erfolg und das Ziel einer 80- bis 95-prozentigen Reduktion der Treibhausgase bis 2050 erreicht werden soll.

Die DEA Deutsche Erdöl AG hat ähnliche Erwartungen an die Zukunft: In einem Gastkommentar im Wirtschaftsmagazin „Connect“ wies Vorstandsvorsitzende Maria Moræus Hanssen kürzlich darauf hin, dass es im Gegensatz zu Kohle, Fleisch und Abholzung in vielen Bereichen noch keine vollwertigen Alternativen zum heutigen Gasverbrauch gibt.

Die VNG AG, Betreiber eines mehr als 7 000 km langen Netzes für Gastransport und -lagerung, erwartet ebenfalls eine hohe Nachfrage. In ihrer langfristigen Strategie, VNG 2030+, wird davon ausgegangen, dass Gas bis 2050 zwar eine wichtige Rolle spielen wird, jedoch allmählich eine größere Vielfalt verschiedener Gasformen wie Biogas, Wasserstoff oder synthetisches Gas verwendet werde.

Erdgas + Klima = eine gute Lösung?

Während wir in Deutschland und der Welt zukünftig einen steigenden Gasbedarf sehen, wissen wir, dass Gas – so wie es heute produziert und verbrannt wird – nicht besonders klimafreundlich ist. Wie können Öl- und Gasunternehmen zur Reduktion von Treibhausgasen beitragen, und zwar über die Werte hinaus, die bei der Erstattung von Kohle durch Gas in der deutschen und europäischen Stromproduktion verringert werden?

„Der wichtigste Beitrag eines Öl- und Gasunternehmens im Upstream-Bereich zum Klimaschutz liegt derzeit in der eigenen Förderung“, schreibt Maria Moræus Hanssen. Nach ihrer Aussage ist es durchaus möglich, den Carbon footprint bei Produktionsprozessen zu reduzieren. Unternehmen müssten jedoch stärker dazu animiert werden und noch mehr Einsatz zeigen als bisher. „Es geht darum, kosten- und energieeffizient zu sein, neue Arbeitsweisen zu finden, im großen Stil zu digitalisieren, viel mehr in Mitarbeiter und Weiterbildung zu investieren und nicht zuletzt die beste verfügbare Technologie zu nutzen“, so Moræus Hanssen.

Heute fließen 95 Prozent des norwegischen Erdgases durch Rohre nach Europa. In Deutschland wird das Gas in ein 400 000 km langes Gasnetz überführt. Es gibt auch zahlreiche unterirdische Gaslagerstätten. Diese Infrastruktur kann auch in einer dekarbonisierten Zukunft genutzt werden. Das Gasnetz wird in der Zukunft in der Lage sein, Wasserstoff aus erneuerbarem Strom sowie (synthethisches) Methan und möglicherweise auch CO2 zu transportieren. VNG geht in seinen Zukunftsprognosen davon aus, dass das Gasnetz für diese Zwecke genutzt wird.

„Wir sind überzeugt, dass Erdgas aufgrund seiner Klimafreundlichkeit noch auf lange Sicht eine wichtige Rolle im Energiemix spielen wird und spielen muss“, meint Hans-Joachim Polk, Vorstandsmitglied der VNG, und erzählt weiter, „Grüne Gase werden aber mittel- bis langfristig weiter an Bedeutung gewinnen und die Energiewende zum Erfolg führen. Darauf stellt sich VNG mit ihrer Strategie „VNG 2030+“ ein. So investieren wir zukünftig verstärkt in das Wachstumsfeld grüne Gase“.

Sektorkopplung eröffnet neue Geschäftsfelder und ermöglicht CCS

Durch die Nutzung der bestehenden Gasinfrastruktur kann überschüssige Energie aus Wind- und Solaranlagen, die in den nächsten Jahren weiter ausgebaut werden, besser ausgenutzt werden. Diese überschüssige Energie kann durch Elektrolyse in Wasserstoff und andere synthetische Gase umgewandelt werden, die dann entweder gespeichert oder in Sektoren eingesetzt werden, in denen eine Elektrifizierung schwierig ist – beispielsweise im Verkehrssektor oder in der chemischen Industrie.

So können grüne Elektronen in grüne Moleküle umgewandelt werden, und Gas kann eine bedeutende Rolle bei der sogenannten Sektorkopplung spielen, also der Vernetzung von Sektoren wie Elektrizität, Verkehr, Wärmeversorgung sowie der Industrie mittels sogenannter Power-to-Gas-Technologien.

Einer Analyse der Beratungsagentur ENCON.Europe zufolge sollte Deutschland bis 2030 über eine Kapazität von 7 GW Wasserstoff verfügen, um bis 2050 einen Bedarf von mindestens 100 GW decken zu können. Sollte Deutschland in der Lage sein, ein Energiesystem mit 80 bis 95 Prozent erneuerbaren Strom zu schaffen, werden 2050 rund 15 Prozent der gesamten Stromproduktion in die Produktion von Wasserstoff fließen, so ein Bericht des Hydrogen Council aus dem Jahr 2017.

Eine Metastudie zu den Bedingungen einer erfolgreichen Energiewende bis 2050 unter Beteiligung der Deutschen Energie-Agentur kommt zu dem Ergebnis, dass der Bedarf an synthetischen Energieträgern im Jahr 2050 zwischen 200 und 900 TWh liegen wird.

Die Bundesregierung stellt derzeit erhebliche Ressourcen für die weitere Entwicklung dieses neuen Geschäftsbereichs zur Verfügung, wobei die Sektorkopplung als ausschlaggebend für den Erfolg der Energiewende gilt. In Deutschland gibt es derzeit drei Dutzend Projekte, die sich auf unterschiedliche Weise mit der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien beschäftigen. Diese Zahl wird in den nächsten Jahren vermutlich weiter steigen.

Die Sektorkopplung ist auch ein guter Ausgangspunkt für die erneute Diskussion von CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS). Durch die Abscheidung und den Transport von CO2 zu einer geeigneten Lagerstätte kann das Gasnetz auch für Wasserstoff genutzt werden. Wenn zehn Prozent des importierten Erdgases aus Norwegen und Russland an der Quelle dekarbonisiert werden, liegt das Potenzial für dekarbonisiertes Gas bei 61 TWh. Dies würde etwa 12,3 Millionen Tonnen weniger CO2-Emissionen in Deutschland bedeuten, was einer Reduktion der Gesamtemissionen in den Sektoren Elektrizität, Wärmeversorgung und Verkehr um 2,3 Prozent entspricht.

Gas und erneuerbare Energien als komplementäre Säulen

Aus deutscher Sicht ist somit klar, dass Gas eine elementare Rolle spielt und spielen wird. Erdgas kann einen wichtigen Beitrag zu einem zukünftig dekarbonisierten Energiesystem leisten. Dies setzt jedoch voraus, dass wir Gas anders einsetzen als heute und CO2-Emissionen vermeiden. Die Entwicklung von CCS und der Ausbau erneuerbarer Energien muss fortgesetzt werden, damit es genug erneuerbaren Strom gibt, um den zukünftigen Bedarf an Wasserstoff zu decken. Auf diese Weise könnten Gas und erneuerbarer Strom die Säulen der zukünftigen Niedrigemissionsgesellschaft sein.