Mitte Januar stand Deutschland als eines der ersten Länder auf der Liste für die Antrittsbesuche des neuen norwegischen Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre. Im Zuge seines Antrittsbesuches nahm er an einer Podiumsdiskussion mit Vertretern der deutschen Wirtschaft, Politik und des Klimaschutzes unter dem Thema „Dekarbonisierung der deutschen Industrie und die Rolle Norwegens“ teil. Die Veranstaltung wurde von der norwegischen Botschaft in Berlin und dem DIHK – Deutscher Industrie- und Handelskammertag in enger Kooperation mit der AHK Norwegen, die ihren Sitz in Oslo hat, organisiert. Im Rahmen der Diskussion betonte Gahr Støre mehrfach das Potenzial der norwegisch-deutschen Zusammenarbeit im Rahmen der Energiewende. Wir haben dies zum Anlass genommen, noch einmal genauer beim norwegischen Ministerpräsidenten nachzufragen und ein Interview mit ihm geführt.
Herr Gahr Støre, das übergeordnete Thema der Diskussion war die grüne Energiewende. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die grüne Wende, aber auch das größte Potenzial?
Jonas Gahr Støre: Europa befindet sich inmitten einer Energiekrise, in der Preise von Rekordhöhe sowohl die Industrie als auch die Haushalte stark belasten. Dies zeigt, wie wichtig es ist, ein robustes und differenziertes Energiesystem aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Klimaemissionen zu senken. Norwegen ist seit 40 Jahren ein zuverlässiger Energiepartner für Deutschland, der Erdgas und Ökostrom in voller Kapazität liefert. Jetzt werden wir ein neues Kapitel in dieser Geschichte schreiben, in dem wir gemeinsam Lösungen finden, um die Emissionen der Industrie zu reduzieren, die Nutzung erneuerbarer Ressourcen zu steigern und den Übergang in eine emissionsfreie Zukunft zu beschleunigen. Das bietet große Möglichkeiten, um in den kommenden Jahren neue grüne Arbeitsplätze und Werte zu schaffen, sowohl in Norwegen als auch in Deutschland.
Ein weiteres großes Thema war die Dekarbonisierung von Gas durch CCS. Eine wichtige Ressource, auf die wir Ihrer Meinung nach nicht verzichten sollten. In Deutschland ist die Skepsis nach wie vor groß. Was braucht es aus Ihrer Sicht, um die Regierung und die Wirtschaft zu einem Umdenken zu bewegen und für Projekte zu begeistern?
Jonas Gahr Støre: Sowohl das UN-Klimagremium als auch die Internationale Energieagentur (IEA) betonen, dass die Klimaziele und die Vision der Null-Emissions-Gesellschaft ohne die Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoff, das sogenannte CCS (Carbon Capture and Storage), nicht zu erreichen sein werden. Auch die neue Bundesregierung erkennt die Notwendigkeit „technischer Negativemissionen“ an. CCS wird sowohl für die Reduzierung von Emissionen aus der Stromerzeugung als auch von Restemissionen aus Industrie und Abfallwirtschaft wichtig sein. Norwegen hat 30 Jahre Erfahrung mit CCS auf dem norwegischen Kontinentalschelf – wir wissen, dass die Speicherorte sicher und dicht sind. Wir sind sehr daran interessiert, dies auf der deutschen Seite zu kommunizieren. Hier gibt es gute Möglichkeiten, Partnerschaften zwischen Norwegen und Deutschland aufzubauen.
Wie sieht es mit der Wertschöpfungskette der CCS-Projekte aus? Können Sie etwas näher erläutern, was dafür erforderlich ist? Können Sie sich vorstellen in Zukunft die Gaslieferungen an CCS zu knüpfen?
Jonas Gahr Støre: Wir wissen, dass die Technologie funktioniert und dass die Lagerung sicher ist. Jetzt gilt es zu zeigen, dass die CO2-Managementkette in der Praxis funktioniert und eine wirtschaftlich interessante Alternative für die Industrie darstellt. Im Rahmen des Langskip-Projekts entwickelt Norwegen daher das erste industrielle Projekt Europas zur CO2-Abscheidung und -Speicherung. Ziel ist es, Restemissionen aus der Industrie in Norwegen und Europa auf kostengünstige und sichere Weise abzuscheiden, zu transportieren und zu speichern. Langskip ermöglicht auch die Speicherung von Kohlenstoff in dem norwegischen Kontinentalschelf. Hier besteht ein großes Potenzial für Kooperationen zwischen industriellen Akteuren in Norwegen und Deutschland.
„Norwegen ist seit 40 Jahren ein zuverlässiger Energiepartner für Deutschland, der Erdgas und Ökostrom in voller Kapazität liefert. Jetzt werden wir ein neues Kapitel in dieser Geschichte schreiben, in dem wir gemeinsam Lösungen finden, um die Emissionen der Industrie zu reduzieren, die Nutzung erneuerbarer Ressourcen zu steigern und den Übergang in eine emissionsfreie Zukunft zu beschleunigen.“
Auch die Produktion, Lieferung und Nutzung von Hydrogen war ein Thema. Wo sehen Sie Potenziale für die norwegisch-deutsche Zusammenarbeit?
Jonas Gahr Støre: Norwegen könnte auf Dauer ein bedeutender Wasserstofflieferant für Deutschland werden. In Norwegen wurden bereits spannende Projekte initiiert, sowohl für mit erneuerbaren Energiequellen hergestellten Wasserstoff als auch mit der Kombination von Gas und CCS. Die geografische Nähe und die vorhandene Infrastruktur machen Norwegen zu einem natürlichen strategischen Partner für Deutschlands Wasserstoffinvestitionen. Das norwegische und deutsche Industrie- und Technologieumfeld hat einen hervorragenden Ausgangspunkt, um gemeinsam technologische Lösungen und Wertschöpfungsketten zu entwickeln, die Wasserstoff zu einer wettbewerbsfähigen Energiequelle sowohl in der Industrie als auch im Verkehr macht. Bei der Nutzung von Wasserstoff sind der maritime Sektor und die grüne Umstrukturierung der Schifffahrt der Motor des Wasserstoffaufbaus in Norwegen. Norwegen und Deutschland sind wichtige Seefahrernationen, und dies ist ein natürliches Gebiet der Zusammenarbeit, um diesen Einsatzbereich für Wasserstoff zu beschleunigen.
Neben CCS und Wasserstoff gibt es weiteres Potenzial für bilaterale Kooperationen. Welche möglichen Ansätze sehen Sie hier?
Jonas Gahr Støre: Der grüne Wandel bietet eine Reihe von Möglichkeiten für eine verstärkte norwegisch-deutsche Zusammenarbeit. Offshore-Wind ist ein Beispiel, bei dem norwegische und deutsche Akteure bereits seit einigen Jahren gut zusammenarbeiten, und in dem sich langfristig neue Möglichkeiten eröffnen könnten. Wir müssen jetzt ernsthaft damit beginnen, in Norwegen in Offshore-Wind zu investieren. Die norwegische Investition in die Produktion von Batterien für die Elektromobilität bietet ebenfalls große Chancen für die Zusammenarbeit mit der deutschen Automobilindustrie.
Welche Herausforderungen sehen Sie insbesondere für die deutsch-norwegische Zusammenarbeit?
Jonas Gahr Støre: Um die Klimaziele zu erreichen muss uns in kurzer Zeit ein umfassender Umbau von Industrie und Wirtschaft gelingen. Wir müssen dies tun und parallel dazu eine stabile Energieversorgung aufrechterhalten, eine wettbewerbsfähige Industrie erhalten und entwickeln, und sicherstellen, dass die Entwicklung auf sozial gerechte Weise erfolgt. Hier erlebe ich, dass Norwegen und Deutschland gemeinsame Ziele und eine hervorragende Ausgangsbasis haben, um all dies zu erreichen. Wir haben die Initiative für einen intensivierten Dialog über Energie und industriellen Wandel ergriffen, um sicherzustellen, dass die Geschäftswelt in beiden Ländern am besten gerüstet ist, um die vielen Chancen zu nutzen, die der grüne Wandel bieten wird.
Vielen Dank für diese weiteren Einblicke.
Wie ernst die norwegische Regierung die Umsetzung des grünen Wandels nimmt, zeigt die Veröffentlichung der Pläne zu den kommenden Investitionen im Bereich Offshore-Wind aus der vergangenen Woche. Auch hier sieht Gahr Støre Potenzial für die norwegisch-deutsche Zusammenarbeit. Die AHK Norwegen zählt das Thema Energie zu seinen Kernbereichen, in denen sie ihre Aktivitäten bündelt. Neben Offshore-Wind werden hier weitere Energiethemen wie CCS und Wasserstoff großgeschrieben. Die AHK Norwegen sieht sich als Brückenbauer und Vermittler in den norwegisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen und unterstützt den Handel, die intensive Zusammenarbeit und den kontinuierlichen Erfahrungsaustausch in den beiden Ländern. Sie bietet sowohl ihren Mitgliedsunternehmen als auch interessierten Unternehmen eine Plattform, um Beziehungen aufzubauen und Kontakte zu knüpfen. Neben den für Mitgliedsunternehmen etablierten Arbeitsgruppen dienen in den Bereichen Energie und Industrie dazu konkret das German-Norwegian Industry Forum (nächste Veranstaltung 11./12. Mai in Düsseldorf) sowie der German-Norwegian Energy Dialogue (Herbst 2022).